Die Fotos sind Blicke. Da guckt einer raus. Er schaut durch ein Baugerüst hindurch nach draußen. Wo ist denn der Fotograf? Auf einer Baustelle? Warum? Kommen diese Blicke aus der Baustelle heraus oder gehen sie durch sie hindurch? Ist er gefangen und geht sein Blick sehnsüchtig hinaus in die Stadt? Nein? Das Gerüst ist ein Baugerüst – um seinen Standort abzustützen und gleichzeitig dadurch abzusichern vor der Stadt und ihrem Chaos? Überall Wohnungen mit Menschen. Fremdheit. Anderes Leben, das nicht zu nah kommen soll.
Der Blick durch die feingewebten Netze vor den Gerüsten, macht die Sicht unscharf. Konturen werden weicher. Unschärfe relativiert die Dringlichkeit des Alltags.
Das Staubnetz lässt den Dreck der Stadt draußen. Dahinter bleibt es rein.
Der Beobachter wird zunehmend zum Beobachteten, denn es ist sein Blick, den er uns zeigt. Er zeigt uns den Rahmen, aus dem heraus er agiert, seinen Stützpunkt, vom dem aus er beobachtet. Die Gerüste sind sein Rückzugsort. Entlarvend sind sie aber auch Teil seines Blickes. Die ihn noch immer schützen. Wehrwall gegen die, die er beobachtet. Kommt nicht zu nah.
Und doch gibt es sie, die er beobachtet. Und wenn sie ihn sehen, werden sie zum Publikum. Während er fotografiert. Fenster werden Augen. Weil wir wissen, überall lebt einer. Eine. Schaut durch das Fensterauge hinaus auf die Bühne des Beobachters. Hallo du da. Beobachtest du mich. Bist doch auch einer von uns. Was soll das? Bist doch nicht besser als ich. Guck dich doch mal an.
Die Baustellengerüste markieren eine Bühne, von der herab er die Bilder schießt. So wird das Außen zum Zuschauerraum.
Der Beobachter steht auf der Bühne. Nur der Rahmen seines Aufenthaltsorts ist sichtbar. Irgendwo dazwischen muss er sich aufhalten. Er selbst bleibt auf den Fotos unsichtbar. Denn er ist der Beobachter. Und er zeigt uns auf der markierten Bühne das Beobachtete. Die Bühne wird dadurch zum Spiegel. Für die Beobachteten. Doch er wird es erst in dem Moment, in dem die Bilder zur Schau gestellt werden. Vorher ist er der Beobachter und schaut raus. Durch die Netze.
Wechselspiel der Schärfe. Mal hier mal dort scharf. Je nach Fokus. Automatisiert geht hier aber nix. Der Beobachter bestimmt den Blick und die Schärfe. Die Unschärfe wird zur Entscheidung. Die Entscheidung des Beobachters ist es, die wir sehen. In jedem technischen Detail. Berechnete Tücke und List.
In der Dunkelheit wird die Schärfe zur Linie. Zur Kontur der Fassade. Zweidimensionale Reduktion vor dem intensiven Licht der aufgehenden Sonne. Sie zieht den Blick mit sich in sich hinein. Die Tiefe der Röte lasst die Unschärfe hinter sich zurück. Weit.
Ausschnitte weiten den Blick ins Feine. Details werden sichtbar. Zoom auf das Netzwerk. Gitter auf die Welt.
Zickzackstabstruktur vor kaum zu erahnendem Hintergrund. Ist es dieselbe Welt noch oder schon eine andere. Ist es immer derselbe Standpunkt oder ändert sich der Standpunkt des Beobachters je nach Licht und Zeit. Und Ort? Nein, er bleibt. Nur Licht und Zeit sind in Bewegung. Unabhängig vom Beobachter, der sie nicht beeinflussen kann. Geht mit ihnen mit in seiner Beobachtung und versucht sie zu halten. Der Ort bleibt, wird nur minimal verlassen. Oder nicht? Ist es die Linse des Objektivs, die sich bewegt, oder ist es der Standpunkt des Beobachters?
Der Innenraum ist die Bühne des Beobachters. Auf der er steht und das Außen beobachtet. Weicht er zurück vor dem Außen, so wird der Innenraum zum Rahmen seiner Kulisse. Pflanzen verlieren ihren Maßstab. Durch den Blick des Beobachters werden sie Teil des entstehenden Bildes.
Vorgespiegelte Tatsachen. Fata Morgana von Gräsern, die zum Außenraum gehören und alles verwandeln. Stadtraum wird zur dämmrigen Naturidylle. Im Bild.
Doch die Stadt bleibt und drängelt sich vor. Mit dem Licht des Morgens ist sie wieder wohlauf. Das Gerüst ist wieder Baustelle, die Teil des Stadtlebens ist. Selbstverständlicher.
Und Fenster werden wieder Augen. Die sehen ihn an. Und es werden noch viel mehr. Wenn er die Fotos ausstellt. Dann sehen ihn viele. Auch die, die nicht aus der Außenwelt sind, deren Wohnungen, Fenster er beobachtet und fotografiert hat. Sein Publikum. Vor dem er sich rüstet. Gerüstet hat. Vor denen er sich nun zu stellen hat.
Und der Beobachter weicht einen großen Schritt zurück. Innenraum wird sichtbar. Rahmen wird größer. Passepartout für den kleiner werdenden Außenraum. Mehr Innenraum. Der wird dadurch nur künstlerischer. Ein Buch am unteren Bildrand wird zur dynamischen Skulptur. Der Balkon mit seinem Milchglasfenster wird zur opaken Lichtfläche. Das zentrale Kreuz strukturiert die gesamte Bildebene und die Viertel werden zur Einzelbildern die separat funktionieren.
Dann ein weiterer Rückzug. Zoom internalisiert. Weg von der Außenwelt. Die das Netz verdeckt. Wie eingenebelt weicht der Blick noch mehr vorm Außen zurück oder auf. Nur kleine Ausblicke durch Löcher. Details werden wichtiger. Das Weitblick schwindet zugunsten von Feinheiten aus dem Innen. Wie ist das Netz so fein gewebt! Nähte. Faltenwürfe. Ausgefranste Ränder. Kabelbinder. Und dann wird der Blick spröder. Technische Details. Schrauben. Metall. Rost. Verklärte modern times. Rückzug. Rückbesinnung auf die Basis. Ausgangspunkt des Standpunkts. Das Gerüst wird gecheckt. Bodenständige Gewissheit fehlender Bodenständigkeit.
Der Beobachter beobachtet seinen Standpunkt. Darum kommt er nicht herum. Auch oder gerade in dieser Höhe nicht.
Durchs Netz
Fotografie: Christian Wendling
Text: Wiltrud Föcking
Location: Oostende, Januar 2020
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